Die Geschichte von zwei ehemaligen Studierenden, die für die Liebe ihres Lebens ihre Heimat verlassen und eine neue Heimat gefunden haben.
Johanna öffnet schwungvoll die Tür. Die helle Wohnung im Dachgeschoss des Winterthurer Altbaus ist heimelig. Aus der Küche duftet es nach Backstube und aus dem Bad dringt das Plätschern von Wasser. «Urs ist noch unter der Dusche, wir waren gerade joggen.» Johanna serviert Kaffee und Kuchen und lässt sich aufs Sofa fallen. Sie wirkt zufrieden. Eine Zufriedenheit, die sich noch verstärkt, als Urs dazu stösst, sich neben sie setzt und ihr einen Kuss auf die Lippen drückt. Seit Kurzem nennen Johanna und Urs die gemütliche Wohnung ihr Zuhause. Doch zurück zum Anfang.
September 2014
Urs Kilchenmann studiert seit vier Semestern Journalismus und Organisationskommunikation an der ZHAW in Winterthur. Nun reist der 24-jährige Bülacher für ein halbes Jahr ins deutsche Gelsenkirchen, westlich von Dortmund. Er absolviert dort ein Austauschsemester an der Westfälischen Hochschule. «Ich wollte wissen, wie Journalismus in einem anderen Land gemacht wird», sagt Urs.
Johanna Knipp hat gerade ihr Abitur gemacht. Wie in Deutschland üblich, ist sie von zu Hause ausgezogen und wohnt nun in einer WG in Gelsenkirchen. Die 18-Jährige tritt ihr Studium in Journalismus und Public Relations an – an derselben Schule, an der Urs das nächste Semester studiert.
Die Wege der Deutschen und des Schweizers kreuzen sich schon am allerersten Schultag. «Urs hat mich im Computerraum wegen eines Login-Problems angequatscht», erzählt Johanna. Kurz darauf habe sie den Typen mit dem komischen Akzent bei einem Brunch während der Kennenlernwoche wieder gesehen. Wo Urs Johanna wieder angesprochen habe, ganz ohne Hintergedanken, wie er anmerkt. Johanna grinst ihn vielsagend an.
Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut und verbringen ab und zu Zeit miteinander. «Und plötzlich sind wir ein Wochenende zusammen nach Holland gefahren», sagt Johanna lachend. Ihre Kolleginnen hätten keine Zeit gehabt, mitzukommen. Urs habe das mitbekommen und angeboten, sie zu begleiten – eigentlich aus Jux. Aus Spass wird aber Ernst und so verbringen Johanna und Urs im November zu zweit ein Wochenende im gut 200 Kilometer entfernten Scheveningen in den Niederlanden.
Februar 2015
Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Johanna und Urs sind sich in den letzten Monaten näher gekommen und möchten eigentlich zusammen sein. Doch Urs’ Auslandsemester ist zu Ende und er muss sein letztes Semester in Winterthur antreten. «Wir hatten es zwar nie angesprochen, aber im Grunde waren wir zusammen», erinnert sich Johanna. Urs stimmt ihr zu, fügt jedoch an: «Eine Fernbeziehung konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.»
Und dann ging trotzdem alles ganz schnell. Zwei Tage nach Urs’ Rückkehr in seinen Heimatort Bülach, wo er seit seiner Geburt wohnt, sind sie offiziell ein Paar. «Urs schrieb mir, seine Freunde hätten ihn gefragt, ob er nun eine Freundin hätte und er habe ‹Ja› gesagt», erzählt Johanna grinsend.
Damit die Fernbeziehung erträglich wird, sehen sich Johanna und Urs regelmässig, entweder in der Schweiz oder in Deutschland. Einfach ist die Beziehung trotzdem nicht. Urs trainiert dreimal pro Woche mit seinem Unihockeyteam, am Wochenende spielt er oft an Matches. «Man lebt wie in zwei verschiedenen Welten: in der realen Welt und in der Beziehung. Und es ist schwierig, diese beiden Welten zu vereinen», sagt der mittlerweile 27-Jährige. Doch trotz der Schwierigkeiten und der Distanz sei es eine tolle Zeit gewesen, sind sich die beiden einig. Ihre Blicke sprechen Bände. «Man freut sich immer sehr auf den anderen, es war jedes Mal wie das erste Date», meint Johanna lächelnd, während Urs den Arm um sie legt.
September 2016
Seit er den Bachelor in der Tasche hat, arbeitet Urs in der Unternehmenskommunikation im Spital Bülach und wohnt mit Kollegen in einer WG, ebenfalls in Bülach. Johanna startet in ihr fünftes Studiensemester. Um näher bei Urs zu sein, kommt sie für ein Austauschsemester nach Winterthur. Sie wohnt in Bülach bei seinen Eltern. Anschluss zu finden fällt Johanna trotz Urs und seiner Familie nicht leicht. «Die Schweizer sind viel verschlossener als die Deutschen.» Sie habe die Zeit mit Urs natürlich sehr genossen, sich aber oft gefragt, warum sie nicht einfach im vertrauten Gelsenkirchen geblieben sei.
Obwohl sich Johanna nicht wirklich zuhause fühlt, geht das gemeinsame Semester viel zu schnell vorbei und Johanna und Urs wissen: Es muss sich etwas ändern! Sie haben genug von der Fernbeziehung und dem ewigen Hin- und Herreisen. Gezwungenermassen geht Johanna zurück nach Gelsenkirchen, beendet ihr Studium in Deutschland. Währenddessen machen sich die beiden Gedanken über ihre Zukunft. Und beschliessen, zusammenzuziehen. Die Frage ist nur: Wo?
Johanna und Urs ziehen Hamburg und Köln in Betracht, werfen diese Ideen aber schnell wieder über Bord und konzentrieren sich auf die Schweiz. Johanna erklärt: «Ich bin mit 18 von Zuhause ausgezogen, um zu studieren. Als mein Studium fertig war, hielt mich eigentlich nichts in Gelsenkirchen.» Johanna ist in Kreuztal, 80 Kilometer östlich von Köln, geboren und aufgewachsen. In ihre Heimatstadt zurück will die inzwischen 21-Jährige nicht. Sie würde sich irgendwo in Deutschland ein neues Zuhause suchen, so wie all ihre Freunde. «Und ob ich jetzt am südlichsten Zipfel von Deutschland oder gleich in der Schweiz wohne, macht keinen Unterschied.» Kurz kommt Bülach zur Sprache, doch Johanna entscheidet: «Wenn ich einen so grossen Schritt mache, muss auch Urs seine Komfortzone verlassen.» So kommt Winterthur auf den Plan. Diese Stadt kennen und mögen beide.
Während Johanna ihre Bachelorarbeit schreibt und sich um einen Job in der Schweiz bemüht, sucht Urs eine Wohnung. Beide werden fündig. «Ich wäre nie in die Schweiz gekommen, wenn ich noch keinen Job gehabt hätte», sagt Johanna. Umso glücklicher ist sie, als sie eine Stelle beim Haus der Kommunikation in Zollikon annimmt und Urs die Altbauwohnung im Winterthurer Stadtzentrum ergattert.
September 2017
Johanna und Urs packen ihre Sachen – ihre gemeinsame Zukunft wartet endlich auf sie. Johanna sei der Abschied aus Deutschland viel leichter gefallen als vor einem Jahr für das Auslandsemester. Sie kennt schon die Stadt und sie hat Urs, der jetzt viel mehr Zeit für sie hat. Ihre Familie und Freunde sieht Johanna regelmässig. Trotzdem vermisse sie die Offenheit, Ehrlichkeit und Direktheit der Deutschen. Urs kann das nachvollziehen. Er habe unsere nördlichen Nachbarn als sehr offen und herzlich erlebt. Und sich damals in Gelsenkirchen sofort wohl gefühlt – obwohl er seit 24 Jahren in Bülach verankert war. «Heimat ist für mich nicht zwingend ein Ort, sondern Menschen. Es sind persönliche Kontakte, Vertrautheit.»
Aus diesem Grund ist für Urs der Umzug von Bülach nach Winterthur auch nicht ganz einfach. «Früher wohnten all meine Kollegen um die Ecke, ich sah sie quasi automatisch. Heute muss ich planen, auch wenn ich noch in Bülach arbeite.» Immerhin hat er seine Johanna in Winterthur. Sie scheint sich wohl zu fühlen in der kleinen Schweiz. «Heimat ist für mich kein spezifischer Ort. Heimat ist überall dort, wo ich genauso sein kann, wie ich bin. Und hier bei Urs kann ich das.»
Bildurheber: Corina Oertli
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation auf brainstorm.vszhaw.ch erschienen.