Freitag, 6:49 Uhr: Jedes Mal ist das Hoffen vergeblich, wenn du glaubst, der Bus würde früher kommen und du müsstest nicht so lange in der Kälte stehen. Doch wenigstens ist er noch so pünktlich, dass es keinen Stress geben wird, wenn du aussteigen musst. Es steigen immer etwa die gleichen Gesichter aus. Das Mädchen, mit dem du zur Schule gegangen bist, als ihr noch Kinder wart und der junge Mann, den du von der Party letztens kennst, der dich jedoch nie grüsst.
Dein sogenannter Stammplatz ist noch frei und du setzt dich wie automatisch dorthin. Es ist kein Platz, der komplett in der Mitte ist, sondern eher weiter hinten. Gerade dort, wo du dir immer einen recht guten Überblick verschaffen kannst. So ist es auch oft möglich zu vermeiden, dass sich gleich Jeder neben dich setzt. Nichts gegen die, die es tun wollen, jedoch ist deine morgendliche Menschenverträglichkeit nicht immer die Grösste.
Wenn sie nicht schon vorher drin waren, dann kommen spätestens jetzt deine Kopfhörer zum Einsatz. Nicht jeder ist alleine unterwegs und redet wenig, manche sind um diese Zeit schon putzmunter und völlig im Redefieber. Dieses steckt dann die Sitznachbarn an und schlussendlich übertönt ein Viererabteil voller Zehntklässlerinnen alle anderen Gespräche im Bus. Und dies ist nicht unbedingt dein bevorzugtes Geräusch am Morgen früh.
Nur weil du ihnen nicht unbedingt beim Austausch von Neuigkeiten zuhören willst, heisst das nicht, dass du dich gar nicht für die Menschen in deinem Umfeld interessierst. Sie sind durchaus spannend, allerdings eher, wenn du das Hinter- und auch Vordergrundgeräusch selbst bestimmen kannst. Während deine Ohren also der Stimme von deinem Lieblingsmusiker zuhören, konzentrierst du dich mit den Augen auf deine Mitmenschen.
Die meisten sind dir bekannt aber auch völlig unbekannt. Du weisst, wie sie aussehen, wo sie bevorzugt sitzen und wo sie ein- und ausstiegen. Doch sonst ist dir nichts Weiteres über sie bekannt. Der ältere Herr weiter vorne zum Beispiel. Er muss in einem der alten Häuser hinter der Haltestelle wohnen, wo er immer einsteigt. Weshalb es ihn schon zu dieser frühen Stunde aus dem Haus und in die Stadt zieht, weisst du nicht. Doch es gab selten einen Freitag, wo er nicht zwei Stationen nach dir eingestiegen ist.
Dann gibt es die Frau, die wahrscheinlich zur Arbeit fährt. Sie ist jeden Tag zur selben Zeit im Bus, ausser am Mittwoch, dies scheint wohl ihr freier Tag zu sein. Sie könnte Kinder haben und mittwochs nicht arbeiten, weil sie nachmittags frei haben. Es kann aber auch gut sein, dass sie immer nur morgens arbeiten geht, schliesslich siehst du sie nie beim Zurückfahren.
Nicht so, wie die zwei Jungs, die eine Haltestelle nach dir einsteigen. Sie nehmen auch oft denselben Bus zurück wie du. Wahrscheinlich Schüler, so klingt es auf jeden Fall immer, wenn du mal keine Kopfhörer drin hast und die Zehntklässlerinnen vorne nicht zu laut miteinander reden. Dann hörst du nämlich, wie sie sich über Prüfungen, Lehrer und Arbeiten beschweren.
Was du selbst für einer bist, das weiss ich auch nicht. Um das zu erfahren, müsste ich mal länger sitzen bleiben, so viel Zeit bleibt mir nämlich gar nie, dich zu studieren, denn gleich kommt meine Haltestelle und da muss ich raus, um einer Tätigkeit nachzugehen, die du bestimmt auch schon versucht hast, zu erraten.
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation auf Tize erschienen.