«Vorankommen durch Weiterbildung»: An diesem Credo kommt man im Berufsleben nicht vorbei. Worüber man weniger spricht, ist die berufliche Erfahrung. Ein vergleichbares Credo fehlt. Und das ist schade, denn Erfahrung ist zukunftssichernd.
Der Weiterbildungsmarkt boomt. Viele Erwerbstätige reihen Weiterbildung an Weiterbildung und hoffen, dadurch arbeitsmarkttauglich zu bleiben. Seit die Digitalisierung unsere Arbeitswelt verändert, dreht sich die Spirale der Jobanforderungen schneller und schneller. Digitales Wissen mündet in Lehrgänge, die wie Pilze aus dem Boden schiessen.
Die Gegenwart der Arbeit rast in Richtung Zukunft. Und das ist gut so. Wenn sich die Welt verändert, verändert sich auch die Arbeit. Was dabei allzu leicht aus dem Blickfeld gerät, ist die berufliche Erfahrung – sprich die erlebte Vergangenheit als arbeitende Person.
Die Erfahrung hat es schwer: Sie ist unsichtbar, sie steht in keinem Lehrbuch und sie offenbart sich in der Regel nicht direkt. Kommt hinzu, dass das Sprechen über die Wirkweise von Erfahrung nicht einfach ist. Wie umreisst man ein Gespür, einen routinierten Handgriff oder die Assoziationskraft?
Gleichzeitig ist die Erfahrung sehr individuell. Jede Person ist anders, womit auch jede Person andere Erfahrungen macht. Wie vergleicht man etwas, das von vornherein voneinander abweicht? Für die Erfahrung gibt es auch kein Diplom. Noten sind das falsche Bewertungsmass und selbst Beschreibungen schwächeln: Jede Beschreibung muss man interpretieren und das öffnet Tür und Tor für Fehleinschätzungen.
Kein Können ohne Erfahrung
Trotzdem ist die Erfahrung ein Erfolgsfaktor. Sie ist ein zentraler Bestandteil des beruflichen Könnens – und damit für jedes Unternehmen unverzichtbar. Das bestätigte 2016 eine Befragung von 600 Führungskräften im deutschsprachigen Raum. Erfahrung ist ein «wenig sichtbarer» Erfolgsfaktor, lautete das Fazit der Untersuchung, an der auch die FHS St.Gallen mitarbeitete. Ihr wird grosse Bedeutung beigemessen, wenngleich ihre systematische Erfassung oder Pflege ausbleibt.
«Erfahrung ist sehr wichtig», bestätigt auch FH-Absolvent Remo Burkart, Leiter der Zürcher Niederlassung der Personalberatung Jörg Lienert AG, die Fach- und Führungskräfte selektioniert. «Vorausgesetzt, sie hemmt nicht, neuen Erfahrungen gegenüber offen zu sein.»
Die Erfahrung wird in der Praxis erworben. Man eignet sich eine neue Tätigkeit an, indem man sie ausübt, erlebt und begreift. Wer noch nie eine Spritze gesetzt hat, braucht hierzu Anleitung und danach Übung. Erfahrung geht nicht von heute auf morgen, sie erfordert Zeit.
Ist die Erfahrung einmal vorhanden, geht sie nicht so schnell verloren. Steht eine neue Aufgabe an, kann jede Erfahrung nützlich sein, selbst die unbedeutendste. Ausserdem ist das Sammeln von Erfahrung nie abgeschlossen. Sie vergrössert sich immerfort und verfeinert sich gleichzeitig.
Jede Arbeit erfordert Erfahrung
«Erfahrung ist für mich mit einem Kompass zu vergleichen», illustriert Burkart. «Mit diesem Kompass kann ich meine Skills und mein Wissen aus Aus- und Weiterbildungen richtig ausrichten, um ein Ziel zu erreichen.»
Ein Kompass bietet Orientierung. Und just in unsicheren Zeiten wie den gegenwärtigen tut Orientierung not. Neues in Altes einbetten oder Altes im Neuen erkennen – das ist eine Kompetenz, die erfahrene Personen mitbringen. Das Alte wird uns noch lang begleiten, auch wenn das kurios klingt. Das Alte – das ist der Mensch mit seinen typischen Verhaltensweisen.
Berufliche Erfolge erreicht man nur, wenn neues Wissen und Erfahrung Hand in Hand gehen. Es ist toll, wenn alle über Weiterbildung reden. Noch besser wäre es, wenn der Erfahrung gleichzeitig etwas mehr Aufmerksamkeit zuteil würde. Lebenslanges Lernen heisst auch lebenslanges Erfahren. Lernen verfolgt nicht allein das Ziel, sich neues Wissen anzueignen, sondern ebenso, erfahrener zu werden.
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation auf fhnews.ch erschienen.
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