In unserem Interview verrät uns Sibyl Eigenmann, Präsidentin der CVP Stadt Bern, warum lebenslanges Lernen zunehmend wichtiger wird, wieso ihr die ständige Akademisierung ein Dorn im Auge ist und was es mit dem Lernen von russischem Vokabular auf sich hat.
Auf welchen Erfolg Ihrer bisherigen politischen Karriere sind Sie besonders stolz?
Die guten Wahlresultate, die ich bislang erzielt habe. Auch wenn es für die Wahl nicht gereicht hatte, war ich sehr zufrieden mit den vielen Stimmen.
Weshalb haben Sie sich für ein politisches Amt entschieden?
Politik ist meine Leidenschaft, es interessiert mich einfach sehr. Leider verdiene ich (noch) nichts für meine politische Arbeit. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden 😉 .
Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial für die Schweizer Bildungslandschaft?
Oft sind die Menschen sehr, sehr jung, wenn sie sich für einen Beruf entscheiden müssen. Zum Glück kann man sich in der Schweiz später immer wieder umentscheiden. Das Schweizer Bildungssystem ist genug durchlässig, aber eine Umschulung/Weiterbildung braucht Biss, benötigt Zeit und oft auch Geld. Eventuell bräuchten die jungen Menschen bessere Entscheidungshilfen oder bessere Überbrückungen, wenn sie sich noch unschlüssig sind. Eduwo bietet in dieser Hinsicht sicherlich eine sehr hilfreiche Plattform.
Im Übrigen ist mir die ständige Akademisierung von Berufen ein Dorn im Auge. Nicht jeder Beruf benötigt einen theorielastigen Masterabschluss. Ein Lehrabschluss mit stufenartigen Weiterbildungsmodulen ist genau so wertvoll. Und zu guter Letzt: Die Politik steht in der Pflicht, den Lehrerberuf wieder attraktiver zu machen. Auch die grossen Unterschiede in der Besoldung (je nach Kanton / je nach Stufe) müsste man überdenken.
Trifft die Politik genügend Massnahmen für das Schweizer Bildungssystem?
Ja, ich denke schon. Die Bildung nimmt einen hohen Stellenwert ein in der Politik.
Was raten Sie jungen Menschen, die eine politische Laufbahn anstreben?
Das sollen sie unbedingt tun. Je mehr junge Menschen, die sich mit Politik auseinandersetzen, desto besser. Junge Menschen brauchen einfach viel Geduld und leisten zuerst unzählige Stunden Freiwilligenarbeit, bis sie im erlauchten Kreis der «gestandenen Politiker» aufgenommen werden. Aber es macht auch Spass und man findet tatsächlich Freunde fürs Leben.
Wie gehen Sie als Politikerin mit Kritik um?
Noch nicht so gut, wie ich mir das wünsche 🙂 . Es gibt sachliche Kritik, die ich genau so sachlich aufnehme, und es gibt minderwertige «Kritik», die mich manchmal immer noch sprachlos macht.
Was sind die aktuell grössten Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft ausgesetzt ist?
Betrachtet man die Schweiz isoliert, so sind das meines Erachtens die Altersvorsorge und das Gesundheitssystem. Hier stellen uns die Demographie und unsere Erwartungshaltung vor grosse Herausforderungen. Schaut man auf die Schweiz als Teil der internationalen Gemeinschaft, denke ich nebst der Europapolitik vor allem an das Klima und die Spannungen zwischen den grossen Wirtschaftsmächten. Das bereitet mir Sorgen. Die Schweiz kann für beide Problemstellungen viel tun – und tut sie auch – aber unser Einfluss ist begrenzt.
Lehre oder Studium?
Beides natürlich – kombiniert oder einzeln – das ist ja das tolle am schweizerischen Bildungssystem.
Welche Veränderungen im Bildungssystem erwarten Sie in den nächsten Jahren?
Lebenslanges Lernen – das ist keine leere Floskel. Ich denke, heutige und zukünftige Generationen werden sich ein Leben lang (weiter)bilden. Nur einen Abschluss zu besitzen, wird mehr und mehr zur Ausnahme.
Welches Studium bzw. Weiterbildung würde Sie momentan interessieren?
Wo soll ich anfangen beziehungsweise wie viele Zeichen stehen mir zur Verfügung 🙂 ? Ich könnte ständig lernen und studieren. Ich hatte das grosse Glück, dass ich immer gern zur Schule ging und noch heute gerne lerne. Momentan beschränke ich mich aber aufs Büffeln von russischem Vokabular und Einprägen der Texte für meine Stadtrundgänge.
Haben Sie ein (politisches) Vorbild?
Ich bewundere immer wieder Menschen aus allen möglichen Sparten des Lebens, auch Politiker und Politikerinnen. Nacheifern tue ich aber niemandem, das braucht zu viel Energie und die brauche ich doch fürs russische Vokabular 😉 .
Sibyl Eigenmann ist 34 Jahre alt und wohnt mit ihrem Freund im Berner Marziliquartier. Die Nähe zur Aare möchte sie genau so wenig missen, wie zu den Bergen des Berner Oberlandes, wo sie im Sommer wie im Winter viel Zeit verbringt. Daneben lernt sie gerne Sprachen, wenn auch – nach eigenen Angaben – eher talentfrei. Sie studierte in Genf, Louvain (Belgien) und St.Gallen und arbeitet bei der Postfinance. Nebenberuflich leitet sie Stadtrundgänge bei Stattland.
Wir danken Sibyl Eigenmann für das Interview.