Zwischen Masterarbeit und Paillettenkleid: Der 24-jährige Student Tobias Urech ist eine Dragqueen. Seine Auftritte als Mona Gamie sind auch ein politisches Statement.
Tobias Urech steht vor der Kaffeebar «Apo- THEKE» in Zürich und raucht. Es ist ein seltener Moment der Ruhe für den 24-Jährigen. Tobi, wie er sich selbst nennt, hat Geschichte studiert und macht gerade den Master in Gender Studies an der Universität Basel. Neben seinem Studium engagiert er sich unter anderem in der Politik und im Vorstand der Milchjugend – der grössten Jugendorganisation für LGBT-Jugendliche (englische Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) in der Deutschschweiz. Vor einigen Jahren zog er von seiner Heimat Schaffhausen nach Zürich. «Hier fühle ich mich zuhause», erklärt Tobi.
Einen weiteren Kulissenwechsel gab es 2013, als Tobi zum ersten Mal Bühnenluft schnupperte. Denn der etwas schüchterne junge Mann ist nicht nur Student, LGBT-Aktivist und persönlicher Mitarbeiter der SP-Nationalrätin Min Li Marti, er ist auch Dragqueen. «Vor fünf Jahren hatte ich meinen ersten Auftritt an einer Milchjugend-Party. Für die Veranstaltung wurde eine Dragqueen gesucht. Ich habe mich gemeldet, weil ich Lust hatte, das einmal auszuprobieren», erzählt er. Kurzerhand kaufte Tobi sich Stöckelschuhe und ein Kleid in der Brockenstube, montierte die Perücke und liess sich beim Schminken helfen: die Geburtsstunde von Mona Gamie. «Ich habe mich auf der Bühne so sehr ich selbst gefühlt wie noch nie.» Sein Mut wurde belohnt, denn Tobi tritt seither regelmässig als Dragqueen an Events in der Szene auf. Davon leben könne er allerdings nicht. «Es ist mehr ein Hobby für mich, mit dem ich ein bisschen Geld verdiene. Der Spass steht bei mir im Vordergrund.»
Travestie ist Kunstform und Provokation
Tobi nippt an seinem Caffè Freddo. Immer wieder blickt er durch seine grossen Brillengläser nachdenklich aus dem Fenster, beobachtet die Passanten auf der Strasse. Er interessiert sich für die Menschen und für Geschichte. «Ich verehre die 30er-Jahre und liebe alles, was Vintage ist. Besonders spannend finde ich die Travestie der 20er-Jahre», schwärmt Tobi. So verwundert es auch nicht, dass er als Mona Gamie am liebsten Chansons singt. Die Drag-Szene feiere in Zürich, Basel und Bern gerade ihr Revival. «Trotzdem braucht es in der Schweiz noch viel Aufklärungsarbeit, was dieses Thema betrifft», sagt er. So werde Travestie immer noch häufig mit Transgender verwechselt. «Ich bin zufrieden mit dem mir bei der Geburt zugeteilten Geschlecht. Ich fühle mich als Mann.»
Dennoch verwandelt er sich gelegentlich in eine Frau. Dabei ist Mona Gamie nicht etwa seine zweite Persönlichkeit. «Sie ist zwar eine eigene Person, vielmehr jedoch ist sie ein Teil von mir.» Ausserdem provoziere er bewusst mit dieser Kunstform, wie er die Travestie nennt. «Man fällt als Dragqueen aus der Norm. Nur schon das ist ein politischer Akt», sagt Tobi und lacht. Er und Mona seien sich ähnlich, die Grenzen fliessend. Ein Beispiel? «Mona ist eine vorlaute Dame, elegant und hat ein Faible für Geschichte und Kunst, genau wie ich.» Spätestens in dem Moment, in dem er die Perücke anziehe und sich schminke, sei er in der Rolle der Mona Gamie. «Dabei kann ich nochmals in mich gehen und die Ruhe geniessen», sagt Tobi. Die Vorbereitung dauere jeweils lange. «Ich brauche zirka eine Stunde, manchmal eineinhalb, bis ich fertig bin.» Nach einem Auftritt lege er die Perücke aber nicht einfach ab und sei wieder Tobi. «Mona ist irgendwie immer da. Manchmal bin ich gern etwas länger sie – dann bin ich auch noch Dragqueen nach dem eigentlichen Auftritt».
Hüftpads aus dem Baumarkt
Immer wieder blitzt diese andere Seite von Tobi auf, der einen Blazer und braune Stoffhosen trägt und ganz gerade in seinem Stuhl sitzt. Es sind die kurzen Momente. Momente, in denen beispielsweise seine bunten Socken mit den Palmen unter dem Hosenbein hervorstechen. «Wenn ich Mona längere Zeit im Schrank verstaut habe, vermisse ich sie», gesteht er. Tobi lackiert sich zwar gelegentlich die Nägel, so extravagant wie Mona Gamie, die mit rotem, paillettenbesetztem Fransenkleid herumläuft, sei er im Alltag jedoch nicht.
Der 24-Jährige ist schon einigen professionellen Dragkünstlern begegnet. Denselben Weg einschlagen, das sei für ihn jedoch nur Träumerei. «In der Schweiz könnte man auch gar nicht davon leben», meint er. Da sein Hobby ziemlich kostspielig ist, musste er bei gewissen Dingen erfinderisch sein. «Den BH stopfe ich mit Watte aus und die Pads für die Hüften habe ich aus Materialien vom Baumarkt gebastelt. Zudem habe ich ein paar meiner Kleider auf einem Flohmarkt gekauft», erklärt Tobi. Ein Vorbild aus der Szene habe er nicht, in die Rolle als Dragqueen sei er reingewachsen. «Ich vergöttere jedoch Marlene Dietrich.»
Unterstützung von Freunden und der Familie
Tobias Urech hat die Verwandlungskunst schon immer fasziniert. Schon früh habe sich diese Bewunderung gezeigt. «Als Kind habe ich den Film «Mrs. Doubtfire» aufgezeichnet und ihn mir immer wieder angesehen», erinnert er sich. Von Freunden und seiner Familie sei er immer unterstützt worden. «Meine Freundinnen und Freunde finden das cool, was ich mache und sie kommen oft zu meinen Auftritten.» Ihm gefalle an seinem Hobby vor allem, dass er viele Leute kennenlernt und aus dem gewohnten Umfeld rauskommt. «Es ist toll, für kurze Zeit jemand anderes zu sein – der man im Inneren eigentlich immer ist – und damit den Leuten auch noch eine Freude zu machen», fasst Tobi zusammen.
Ob er sich vorstellen könne, sein Hobby irgendwann aufzugeben? «Spätestens, wenn ich nicht mehr in die Kleider passe. Wobei das Aussehen einer älteren Dame sicher zu Mona passen würde», witzelt Tobi. Wie seine Zukunft aussehen soll oder was er einmal werden möchte, da will er sich noch nicht festlegen. Er könne sich gut vorstellen, einmal in einem Verein, einer Stiftung oder NGO tätig zu sein. «Ganz allgemein möchte ich einfach etwas tun, was mich glücklich macht und der Gesellschaft nützt. Ich denke jedoch, dass man etwas sein kann, ohne dass man es zuerst werden muss. Denn meiner Meinung nach bin ich schon etwas geworden.»
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation auf brainstorm.vszhaw.ch erschienen.
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