Beat Schwendimann, Leiter Pädagogische Arbeitsstelle der Dachorganisation der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) spricht im Interview über den Lehrplan 21, die Schule im Jahr 2050 und den Vorteil von Videos als Lehrmittel.
Was sind die wichtigsten Punkte des Lehrplans 21?
Der Hintergrund eines gemeinsamen Lehrplans ist der Bildungsartikel (Art. 62 Abs. 4) (HARMOS) in der Bundesverfassung, der 2006 vom Schweizer Volk mit grosser Mehrheit angenommen wurde. Er verpflichtet die Kantone dazu, die Bildungsstufen zu harmonisieren. Um diese Harmonisierung umzusetzen, wurde der Lehrplan 21 entwickelt. Mit diesem ersten gemeinsamen Lehrplan für die Volksschule setzten die 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone den Artikel 62 der Bundesverfassung um, die Ziele der Schule zu harmonisieren. Im Herbst 2014 wurde die Vorlage des Lehrplans 21 von den Deutschschweizer Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) freigegeben.
In einem nächsten Schritt konnte nun jeder Kanton gemäss den eigenen Rechtsgrundlagen über den Zeitplan der Einführung sowie kantonale Anpassungen, zum Beispiel in der Stundentafel, entscheiden. Daher handelt es sich konkret um eine Harmonisierung und nicht eine Vereinheitlichung des Lehrplans. Harmonisieren bedeutet in diesem Falle, verschiedene Regelungen unter Wahrung der kantonalen Selbstständigkeit einander anzugleichen. Wie die Ziele erreicht werden, können die Kantone weiterhin selber regeln. Dazu gehören alle Fragen der Unterrichtsorganisation, die Stundentafeln, die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen der Lehrpersonen, die interne Strukturierung der Sekundarstufe I sowie die Auswahl der Lehrmittel.
Was sind Vorteile und Änderungen des gemeinsamen Lehrplans 21?
Eine gemeinsame Erarbeitung von Lehrplänen und Lehrmitteln ist günstiger für die Kantone. Ausserdem wird die Mobilität der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrpersonen von einem Kanton in einen anderen vereinfacht, da nicht jeder Kanton ein anderes Schulsystem hat. Auch bei der Terminologie gibt es eine Angleichung: Es wird in Zukunft von Zyklen statt Stufen gesprochen (Zyklus 1: Kindergarten – 2. Klasse; Zyklus 2: 3. – 6. Klasse; Zyklus 3: 7. – 9. Klasse) und neue Module wie «Medien und Informatik» sowie «Berufsorientierung» sind nun obligatorisch.
Die Einschulung in die Primarschule erfolgt bereits mit 4 Jahren, der Kindergarten gilt von nun an als Teil der Volksschule. Eine erste Fremdsprache (Englisch oder Französisch) werden Schülerinnen und Schüler bereits ab der 3. Klasse, eine zweite Fremdsprache ab der 5. Klasse lernen.
Inhaltlich wird man sich nach der Kompetenzorientierung richten. Beim Kompetenzbegriff geht es nicht nur um Wissen, sondern auch um Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen. Eine Schülerin oder ein Schüler ist kompetent, wenn sie/er Erlerntes nicht nur abrufen kann, sondern ihr/sein Wissen und Können auch auf verschiedene Situationen übertragen und anwenden kann.
Gibt es Kritikpunkte am Lehrplan 21? Wenn ja, welche?
Es bestehen weiterhin gewisse kantonale Unterschiede, zum Beispiel welche Fremdsprache (Französisch oder Englisch) zuerst unterrichtet wird. Das kann bei einem Kantonswechsel für Schülerinnen und Schüler problematisch sein.
«Die neuen Module, insbesondere ‹Medien und Informatik› sind für Lehrpersonen eine Herausforderung»
Die neuen Module, insbesondere ‹Medien und Informatik› sind für diejenigen Lehrpersonen eine Herausforderung, da sie sich in ein neues und komplexes Themengebiet einarbeiten müssen. Die angebotenen Kurse an den Pädagogischen Hochschulen sind mancherorts zu kurz angesetzt, denn Lehrpersonen benötigen ausreichend Zeit und Ressourcen, um das Thema vertieft zu erlernen. Dies braucht regelmässige Fortbildungen, technisch-pädagogische Unterstützung vor Ort und zeitgemässe Lehrmittel. Auch im Aufbau der technischen Infrastruktur gibt es noch grosse Unterschiede unter den Schulen. Es ist wichtig, dass auf kantonaler Ebene eigene Budgetposten für digitale Technologien, inklusive Lehrmittel und Weiterbildungen für Lehrpersonen, geschaffen werden.
Inwiefern können Lehrerinnen und Lehrer die Politik mitbestimmen?
Lehrpersonen haben durch den Lehrplan 21 und den Berufsauftrag klare Vorgaben. An der Erarbeitung des Lehrplans 21 haben zahlreiche Lehrpersonen als Fachpersonen mitgearbeitet. Auf der Unterrichtsebene sind in der Volksschule neben den Lernzielen meist auch die Lehrmittel vorgegeben. Der LCH fordert seit langem, dass auch Lehrpersonen der Volksschule mehr Freiheiten bei der Wahl der Lehrmittel und Lehrmethoden erhalten.
Können die SchülerInnen im 2050 zu Hause bleiben und werden nur noch über Videos unterrichtet?
Digitale Technologien spielen heute schon eine wichtige Rolle in der Schule. In Zukunft wird dies erwartungsgemäss noch zunehmen. Bereits heute wird mancherorts eine «Flipped Classroom»-Methode eingesetzt, bei welcher Schülerinnen und Schüler Lehrervorträge auf Video zuhause ansehen können. Die Zeit in der Schule wird dann zum gemeinsamen Arbeiten an Aufgaben und Projekten genutzt. Das Lernen umfasst neben kognitiven aber auch wichtige soziale und emotionale Aspekte. Daher wird es auch in Zukunft weiterhin wichtig sein, dass Schülerinnen und Schüler sich vor Ort, unter der Leitung einer Lehrperson, treffen.
Sitzen die LehrerInnen im 2050 mehr im Video-Studio als im Klassenzimmer?
Manche Lehrpersonen zeichnen bereits heute ihre Lehrvorträge auf Video auf, und digitale Lernplattformen ermöglichen interessante Möglichkeiten für individualisiertes Lernen im eigenen Tempo. Lehr- und Lernprozesse sind und bleiben aber zwischenmenschliche Prozesse. Menschen lernen von-, für- und miteinander. Es wird daher auch in Zukunft hochqualifizierte Lehrpersonen brauchen, welche im Klassenzimmer Lernprozesse gestalten. Digitale Technologien werden Schulen und Lehrpersonen nicht ersetzen sondern lediglich erweitern und bereichern.
Es gibt viele Schüler aber auch Studierende, die sagen, dass sie abends jeweils YouTube-Videos schauen und dann die Themen erst richtig gut verstehen. An was liegt das?
Videos haben den Vorteil, dass man sich die Inhalte mehrfach ansehen und pausieren kann. Zudem kann man sich verschiedene Videos zum selben Thema ansehen und so ein Thema auf verschiedene Arten verstehen lernen. Viele Schülerinnen und Schüler schätzen es, dass die Videos von anderen Jugendlichen produziert wurden, welche die Inhalte umgangssprachlich erklären. Videos findet man auch vermehrt in der Erwachsenenbildung. Hier werden vielerorts «Massive Open Online Courses» (MOOCs) eingesetzt, auch an vielen Schweizer Hochschulen und Universitäten. Bei MOOC-Plattformen können Studierende Vorlesungen von Professoren auf Video sehen, online Übungen lösen und diese in Foren diskutieren. MOOCs können wertvolle Ergänzungen zu traditionellen Vorlesungen sein.
Was sagen Sie den Eltern, die ihre Kinder neben der öffentlichen Schule noch in diverse andere Stützkurse schicken?
Der wahrgenommene Druck, seine Kinder in Stützkurse zu schicken, entsteht vor allem durch standardisierte Tests. Wenn alle Kinder mit der gleichen Messlatte gemessen werden, entsteht ein grosser Leistungsdruck. Beim kompetenzorientierten Unterricht sollen Schülerinnen und Schüler aber vermehrt individuell arbeiten und gefördert werden. Im Vordergrund soll der individuelle Lernfortschritt mit dem Aufbau von Kompetenzen stehen. Hier besteht momentan aber noch eine Diskrepanz im System, da wir auf der einen Seite individuelle Lernförderung haben und gleichzeitig aber standardisierte Tests, welche vor allem beim Stufenübertritt bedeutsam sind.
«Die wichtigste Veränderung sehe ich im Zugang zu Informationen über das Internet»
Was war, als Sie noch Schüler waren, besser? Was heute?
Die wichtigste Veränderung sehe ich im Zugang zu Informationen über das Internet. Früher musste man Informationen in Büchern nachsehen und in eine Bibliothek gehen. Heute hat man dank Smartphones und Internet ortsunabhängig Zugang zu einem grossen Wissensarchiv. Das Problem ist heute nicht mehr die beschränkte Verfügbarkeit von Wissen, sondern wie man aus der grossen Menge die benötigte und vertrauenswürdige Information herausfiltert.
Beat Schwendimann ist Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des LCH und Mitglied der Geschäftsleitung. Die Pädagogische Kommission (PK) besteht aus zirka 10 bis 12 Lehrpersonen aus allen Stufen sowie weiteren pädagogischen Fachpersonen, welche von den Mitgliedsorganisationen delegiert und von der DV LCH gewählt werden.
Wir danken Beat Schwendimann für das Interview!