Was jetzt von Primarschülern mit dem Fernunterricht erwartet wird, ist in Montessorischulen seit jeher fester Bestandteil: Eigenständiges Lernen. Doch wie gelingt das? Im Herbst 2019 führte unsere Journalistin Priska ein Interview mit der Schulleiterin der Montessorischule Futura in Basel. Sie erzählt vom Schulalltag und den zentralen Konzepten der Montessoripädagogik.

Grau in Grau und ungewohnt kühl präsentiert sich ein kühler Tag, an dem ein Besuch in einer Montessorischule ansteht. Grösser könnte der Kontrast zum trüben Wetter in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Fabrik kaum sein: In Regenbogenfarben stehen an der Garderobe die Namen der Kinder, bunt sind die Altersgruppen gemischt und warmherzig und konzentriert sitzt Schulleiterin Beate Böttcher am Boden – umringt von einer kleinen Gruppe Kinder, für die sie mit farbigen Perlen Teiler in der Mathematik sichtbar macht.

Daneben kauern zwei Kinder vertieft um eine grosse, zwölffarbige Holzperlenschnur, die das Jahr repräsentiert. Über ihnen hängen Modelle von Planeten und in den offenen Gestellen sind Globen, Messinstrumente und hölzerne geometrische Figuren versorgt. An einem Vierertisch üben drei Kinder Buchstabenschreiben und blicken manchmal durchs Fenster in die angrenzende Küche rüber. Später tauschen diese Kinder ihre Stifte durch Rüstmesser aus und helfen vergnügt bei der Zubereitung des Mittagessens. Die Montessori-Pädagogik, begründet durch Dr. Maria Montessori ab 1907, ist nicht neu, erfreut sich jedoch wachsender Beliebtheit. Im folgenden Interview mit Schulleiterin Beate Böttcher von der Tagesschule Futura Montessori in Basel gibt sie aus ihrer Sicht Gründe für das wachsende Interesse an dieser alternativen Schule an und erläutert, welches grundlegende Unterschiede zum regulären Volksschulsystem darstellen.

Guten Morgen Frau Böttcher. Herzlichen Dank für diesen spannenden Einblick in den Unterricht. Wie viele Kinder sind aktuell hier in der Tagesschule?

Momentan sind es 33 Kinder.

Und in welchem Verhältnis sind die Altersgruppen respektive Knaben und Mädchen?

Jetzt gerade ist es sehr ausgeglichen. Wir haben etwa je zur Hälfte Knaben und Mädchen. Auch bei den Altersstufen ist es so: 1-3 sowie 4-6 machen je die Hälfte aus. Natürlich ist dies nicht immer so, denn wir schauen vor allen Dingen, dass ein Kind zu dieser Schule passt.

Und wie gehen Sie vor, um herauszufinden, ob ein Kind zur Schule passt?

Wir gestalten das so, dass die Eltern hospitieren kommen und das Kind eine Woche lang probeweise zur Schule kommt. Danach entscheiden wir gemeinsam.

Bleiben die meisten Kinder ihre gesamte Schulzeit hier?

Ja, in der Regel bleiben sie. Manche gehen, da ihre Eltern aus beruflichen Gründen weiterziehen. Das sind also vor allem die Kinder der Expats. Etwa 99 Prozent der Kinder bleiben jedoch hier.

Anders als in der Volksschule konnte ich beobachten, dass Sie nicht etwas vorgeben, was die Kinder zu erledigen haben. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass alle Kinder in eine Arbeit vertieft sind. Wie strukturieren Sie den Unterricht?

Wir haben das Grundprinzip der Freiarbeit. Es gibt den mathematischen, sprachlichen und naturwissenschaftlichen Bereich. Die Lehrperson gibt eine Darbietung und die Kinder notieren sich in eigenen Worten in ihr persönliches Lexikon, was sie sich merken. Und wir folgen dem Prinzip der kosmischen Erziehung.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Die kosmische Erziehung bedeutet, dass wir den Kindern die Welt als Ganzes geben. Wir entscheiden nicht, was die genauen Lerninhalte sind. Wenn wir zum Beispiel die Merkmale von Säugetieren anschauen, dann kann das jedes Kind individuell für sein Lieblingstier herausfinden. Ausserdem ist das Kind für die Planung selbst zuständig. Das heisst, morgens kommt das Kind zur Schule und es entscheidet, an was es arbeiten will und tut dies dann. Es muss selbst denken. Wir begleiten es, das Kind arbeitet automatisch vorwärts und will lernen.

Gibt es dennoch eine bestimmte Zielgruppe von Kindern, für die sich die Montessorischule nicht eignet?

Ja, das gibt es. Die Voraussetzung ist, dass ein Kind selbständig arbeiten kann. Wenn ein Kind dies nicht kann, weil es das von zu Hause aus nicht kennt, dort alles vorbestimmt ist, man ihm die Schuhe bindet und die Jacke anzieht, dann wird es schwierig.

Auch Kinder von sogenannten Helikoptereltern sind nicht geeignet, da diese wenig Vertrauen in die Selbständigkeit der Kinder haben und alles kontrollieren wollen. Ebenso Kinder, die zu Hause keine Grenzen kennenlernen, Eltern, die die Freunde ihrer Kinder sein wollen und Freiheit mit „laissez faire“ gleichsetzen. Dr. M. Montessoris Pädagogik nennt einen engen Zusammenhang zwischen Freiheit und Disziplin, beide bedingen einander. Damit ist nicht der negative Begriff der Disziplin im Sinne von Unterwerfung gemeint, sondern Montessoris Verständnis einer ‹positiven Disziplin›, was sie selbst als «Meister seiner selbst sein» bezeichnet, im Sinne von „Hilf mir, es selbst zu tun!“

Welches sind die Beweggründe, dass Eltern sich für eine Montessorischule entscheiden?

Das hat verschiedene Gründe. Die einen kennen die Montessoripädagogik und entscheiden sich deshalb bewusst dafür. Andere stossen auf unsere Schule, wenn sie auf der Suche nach einem Ersatz für die Volksschule sind. Wiederum andere Eltern haben traumatische Erfahrungen in ihrer eigenen Schulzeit gemacht und finden deshalb: «Mein Kind soll es besser haben!»

Beobachten Sie eine Veränderung bei den Eltern, die ihre Kinder hier beschulen lassen?

Ja, Eltern vertrauen ihren Kindern immer mehr, weil sie sehen, dass es geht, sie trauen ihren Kindern viel mehr zu. In den Elterngesprächen nehmen Fragen zur Erziehung einen grossen Teil ein. Wir haben generell bildungsnahe Eltern. Das heisst aber nicht, dass wir nur reiche Eltern haben. Wenn Eltern das Schulgeld nicht bezahlen können, finden wir eine Lösung. Sie können dann mitarbeiten, Fenster putzen oder ähnliches.

Welches sind Gründe für das gegenwärtig grosse Interesse an der Montessoripädagogik?

Die Globalisierung. Wir müssen heute lernen zu lernen. Inhalte kann man einfach nachschauen. Kinder lernen in Montessorischulen selbständig zu denken, Dinge zu hinterfragen. Die sozialen Kompetenzen sind auf Grund der Struktur in den Schulen deutlich höher, die Kinder lernen früh, sich selbst zu organisieren – alles Dinge, die heute weit mehr gebraucht werden als stures Auswendiglernen.

Als Sie zur Montessori-Pädagogik kamen, war die Globalisierung wahrscheinlich nicht das Auschlaggebende. Was brachte Sie zur Montessori-Pädagogik?

Ich war Lehrerin in der Regelschule in Deutschland. Die Regelschule ist eine «Drittelschule». Denn bei Eintritt in die Schule kann ein Drittel der Kinder schon lesen und schreiben, ein Drittel ist noch zu wenig reif, dies zu erlernen und für einen Drittel passt es. So muss ich eine Lektion eigentlich drei Mal vorbereiten. Auf der Suche, allen Kindern gerecht zu werden, stiess ich auf die Montessorischule.

Können Sie das genauer ausführen?

Natürlich. Da wir nicht bestimmen, wann ein Kind was zu lernen hat, kann jedes Kind in seinem Tempo und mit so vielen Wiederholungen wie nötig, selbständig im Prozess des Wissenserwerbs sein. Wir zeigen bei unseren Darbietungen Dinge exemplarisch. Die Übertragung machen die Kinder selbst. Und mit diesen Prinzipien ist sowohl ein Kind mit Teilleistungsschwächen als auch eines mit Teilbegabungen gut aufgehoben.

Wie stellen Sie fest, wo die Kinder stehen? Prüfungen gibt es keine, oder?

Genau, es gibt keine Prüfungen. Doch immer wenn wir eine Darbietung machen, überprüfen wir durch Wiederholung, ob die Grundlagen dazu verstanden wurden. Also beinhaltet eigentlich eine Darbietung eine Lernzielkontrolle. Sie kann so dem Kind auch ein gutes Selbstwertgefühl ermöglichen, wenn es merkt, dass es das alles schon kann und es kann sich selbst kontrollieren.

Wie gehen Eltern mit dieser Form der Überprüfung um?

Das ist etwas, das Eltern aushalten müssen. Bei uns kann man nicht ständig kontrollieren, was die Kinder lernen. Wenn zum Beispiel Kinder mit den bunten Perlen handelnd etwas im mathematischen Bereich üben, erzählen sie vielleicht zu Hause, sie hätten gespielt.

Gibt es denn Kinder, die nicht lernen, sondern einfach spielen?

Spielerisch lernen motiviert Kinder. Nach Maria Montessori gibt es sogenannte sensible Phasen. Das bedeutet, ein Kind lernt in der entsprechenden sensiblen Phase von alleine das, wozu es reif ist. Man kann sich das bei einem Kleinkind verdeutlichen, da sagt ihm niemand, dass es lernen soll zu krabbeln oder zu gehen.

Was überzeugt Sie sonst noch an der Montessori-Pädagogik?

Wie gesagt, ich kann jedem Kind gerecht werden. Wir wollen nicht von allen das Gleiche, sondern von jedem Kind das Beste. Wir begrenzen die Kinder nicht in ihren Möglichkeiten. Schwächere haben Zeit, stärkere können ihren Interessen nachgehen. Das Konkurrenzdenken kultivieren wir nicht. Im Gegenteil; dadurch, dass die Materialen nur einmal vorhanden sind, müssen die Kinder sich organisieren und sie entwickeln hier die sogenannten soft skills. Es werden keine Einzelkämpfer, die sich einen Platz in einer Ellenbogengesellschaft schaffen.

Kooperation anstatt Konkurrenz. Wie begegnen die Kinder den Anforderungen, sich auch einmal behaupten zu müssen?

Die Kinder können hier ein Selbstbewusstsein entwickeln und wissen nachher, wo sie ihren Platz finden können in der Gesellschaft. Wir sagen ihnen: «Schau, die Welt steht dir offen! Schaffen kann man es, man muss es jedoch selbst tun. Niemand tut es für einen.»

Was sind in Ihren Augen die Gründe, weshalb die Montessori-Pädagogik nicht in der staatlichen Volksschule Fuss gefasst hat?

(lächelt) Das fragen wir uns auch immer wieder! Ich denke, es sind die Kosten. Einerseits für die Ausbildung der Lehrpersonen, welche zum Lehrdiplom noch eine Zusatzbildung benötigen und andererseits das Material. Wenn ich hier das ganze Material zusammennehme, sind wir bestimmt bei einem fünf- bis sechsstelligen Betrag. Die Politik müsste sich eben ändern. Die gesamte Schulstruktur müsste sich ändern, in Montessoriklassen lernen meist Kinder der ersten bis dritten Klasse und 4. bis 6. Klasse gemeinsam, es gibt auch Schulen wie unsere, in denen Kinder der 1. bis 6. Klasse gemeinsam lernen. Diese Jahrgangsmischung ist ein wichtiges Prinzip in der Montessori-Pädagogik. Dafür sind die Klassenräume der Regelschule nicht gebaut, sie müssten grösser sein, mit Nebenräumen, usw.

Für welche Schule würden Sie sich entscheiden, wenn Sie nochmals Kind sein könnten?

(lächelt) Ich glaube, das wäre klar.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Die Schulräume sind nun leer, die Kinder draussen und all das farbige Material, mit welchem den Kindern die Welt begreifbar gemacht wird, wartet zwischen umsorgten Zimmerpflanzen darauf, wieder zum Einsatz zu kommen.

Fotos: Die Fotos wurden von Priska Rüegg am Tag des Interviews selbst aufgenommen an der Montessori-Schule.



Die Montessori-Schule


Die Montessori-Pädagogik wurde ab 1907 von Maria Montessori entwickelt und zielt auf Eigenaktivität sowie selbstständiges Lernen von Kindern ab. Dabei steht die Förderung einer freien Entwicklung im Zentrum. Die SchülerInnen entscheiden dabei selbst, wann und was sie lernen – dies soll dazu beitragen, ein Gespür für Ausdauer und Disziplin zu entwickeln. Die Schweizer Montessori-Schulen richten sich an Kinder von 0-12 Jahre und werden durch die Assoziation Montessori Schweiz AM(S) lizenziert. Die Einrichtungen finden sich in den Kantonen Bern, Aargau, Basel, Luzern, Schwyz, Zug, Zürich und Thurgau.