Heinz Karrer: «Geologie hat mich schon immer interessiert»

Heinz Karrer, Präsident economiesuisse

Welche Anforderungen stellt die Schweizer Wirtschaft an das Bildungssystem? Wenn das jemand weiss, dann Heinz Karrer. Er vertritt als Präsident von economiesuisse – dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft – fast 100’000 Unternehmen mit rund 2 Millionen Beschäftigten in der Schweiz. Wir haben mit ihm über das duale, typisch schweizerische Bildungssystem, über Leidenschaft beim Handball und im Berufsleben sowie über sein Interesse an der Geologie gesprochen.

Welche Bedeutung nimmt das Bildungssystem für eine erfolgreiche Schweizer Wirtschaft ein?

Die Schweiz hat ein praxisnahes Berufsbildungssystem, das in der Lage ist, sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft von heute, aber auch von morgen, relativ schnell und pragmatisch anzupassen.

Die Bildung hat unbestritten in allen Ländern eine extrem grosse Bedeutung. Speziell in der Schweiz ist aber, dass wir neben Wasser kaum Rohstoffe haben. Wir leben hier vom Wissen. Dies war bereits vor 10, 50 und auch 100 Jahren so. Darum hat das Bildungssystem eine so grosse Bedeutung für einen wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort. Wir ziehen in der Schweiz eine Vielzahl intelligenter Personen aus dem Ausland an. So hat die ETH in den Bachelorstudiengängen etwa einen Drittel ausländischer Studenten, in denjenigen des Masters sogar fast bereits zwei Drittel. Bei Doktoranden sind es sogar etwa 80 Prozent. Davon hat die Schweiz bisher stark profitiert.

Die Schweiz hat ein praxisnahes Berufsbildungssystem, das in der Lage ist, sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft von heute, aber auch von morgen, relativ schnell und pragmatisch anzupassen. Egal, in welches Land man reist, und egal, mit welchen Personen man spricht, beim dualen Bildungssystem schauen viele gespannt auf uns und würden es gerne übernehmen. Viele kommen zu Schweizer Unternehmen und versuchen, es besser zu verstehen. Es ist jedoch auch ein Teil unserer DNA, unserer Kultur und daher nicht so einfach zu kopieren.

Sie nennen viele positive Punkte. Was könnte man aus Ihrer Wirtschaftssicht am Schweizer Bildungssystem aber kurzfristig oder auch langfristig verbessern?

Es ist schon wichtig, dass das Bildungssystem etwas ist, das langfristig ausgerichtet sein sollte. Nichtsdestotrotz sollte man in jedem Bildungssystem ständig prüfen, ob es noch in die richtige Richtung geht. Ein wesentlicher Punkt ist, zu schauen, dass Weiterbildungen über Berufsmatura und Fachhochschule den Fokus der angewandten Wissenschaft haben, so wie es ursprünglich auch angedacht wurde. Es gibt gewisse Akademisierungstendenzen, deshalb ist es ganz wichtig, diesen entgegenzuwirken.

Zu beachten sind auch die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen bezüglich Maturaquoten und auch beim Bedürfnis nach akademischer Bildung. Auch haben wir wesentliche kantonale Differenzen bei der Anzahl Lehrstellen pro Unternehmen. Im Kanton Genf sind es 2,1 Lernende pro 100 Mitarbeitende, im Kanton Appenzell 9,6 Lernende. Natürlich gibt es dafür Gründe, jedoch muss man trotzdem darauf achten, dass das duale Bildungssystem überall in der Schweiz die Qualität bewahren und sich auch in allen Kantonen weiterentwickeln kann.

Das duale System ist wirklich ein Teil der Schweiz. Die einen möchten jedoch mehr Studium, die anderen mehr Grundbildung. Wie sieht Ihre Lösung dafür aus?

Falsch wäre wahrscheinlich, eine Quote zu definieren. Nichtsdestotrotz haben wir gesamtschweizerisch ungefähr eine Maturaquote von etwa 20 Prozent. Das kann so falsch nicht sein. Schwieriger ist es, wenn die Quote bei 30 Prozent oder höher liegt, was in gewissen Kantonen der Fall ist. Es sollte sicher keine inflationären Tendenzen geben, da es andere Möglichkeiten gibt, den universitären Weg auch später noch zu beschreiten, wie beispielsweise über Berufslehre, Berufsmatura, Passerelle oder Fachhochschule. Für alle, die das möchten und die notwendigen Fähigkeiten haben, gibt es entsprechende Alternativen. So wie es jetzt insgesamt gefestigt ist, scheint es mir nicht so schlecht zu sein.

Neue Technologien, neue Arbeitsfelder und neue Geschäftsthemen etablieren sich heute in wenigen Jahren und nehmen eine extreme Wichtigkeit ein. Die heutigen Schülerinnen und Schüler werden in einem Beruf arbeiten, den es heute noch gar nicht gibt. Wie soll sich in einem solch dynamischen Umfeld ein Schüler für die richtige Lehre oder das passende Studium entscheiden?

Ich bin überzeugt, dass etwa die Hälfte der heutigen Berufsbilder in den nächsten zehn Jahren anders aussehen wird.

Ich glaube, es wird sehr stark zunehmen, dass die fachliche Ausbildung, die man absolviert hat, nach zehn Jahren nicht mehr genügt. Dies zeigt, dass man mit dem Grundlagenwissen sorgfältig umgehen muss, da man dies immer brauchen wird. Beispiele sind Erstsprache oder Mathematik. Auch Informatik wurde zum Grundwissen und ist mittlerweile in allen Berufsgattungen relevant, was man auch gerade im Lehrplan 21 berücksichtigt hat. Ich kann nicht genug betonen, dass die Grundlagenausbildung eine sehr grosse Bedeutung hat.

Man braucht zudem die Bereitschaft und die Flexibilität, sich permanent weiterzubilden. Die Zeiten, in denen man nur einen Beruf gelernt hat, sind definitiv vorbei. Zwar gab es in der Vergangenheit auch Veränderungen, wenn man zum Beispiel schaut, wie sich die verschiedenen Berufsbilder entwickelt haben. Die Geschwindigkeit ist nun aber eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass etwa die Hälfte der heutigen Berufsbilder in den nächsten zehn Jahren anders aussehen wird.

Somit setzen Sie für das lebenslange Lernen auf der Seite des Arbeitnehmers Bereitschaft und Flexibilität voraus. Wie können aber Arbeitgeber unterstützen und optimale Rahmenbedingungen schaffen?

Arbeitgeber müssen ebenfalls ein hohes Interesse haben, dass ihre Mitarbeitenden arbeitsmarkt- und leistungsfähig sind. Daher ist es auch eine Aufgabe, der lebenslangen Weiterbildung Rechnung zu tragen. Der Verband Swissmem hat eine Initiative gestartet, dank der es möglich ist, beispielsweise mit 50 Jahren noch eine Lehre zu machen. Ein Aspekt ist, das schulische Angebot bereitzustellen, der andere jedoch die Finanzierung. Sicherlich wird dies für die Arbeitgeberseite in den kommenden Jahren herausfordernd werden.

Grosse internationale Unternehmen wie etwa Google kommen in die Schweiz, weil die Menschen hier extrem gut ausgebildet sind. Für die Gesamtwirtschaft ein Segen. Für Schweizer Unternehmen teilweise ein Fluch, weil Fachkräfte Mangelware sind. Wie kann dieses Problem angegangen werden?

Sie sprechen dabei vor allem die MINT-Berufe an. Hier sehen wir, dass wir im Inland ein zu kleines Angebot haben. Ein Grund ist, dass die MINT-Berufe vor 10 oder 15 Jahren an den Hochschulen zu wenig stark gewichtet wurden. In dieser Hinsicht hat man in den letzten Jahren aber viel unternommen. Es gibt mittlerweile viel mehr universitäre Angebote und Möglichkeiten in der Berufsausbildung. Nichtsdestotrotz ist das Gesamtangebot noch zu klein. Daher braucht es eine Förderung der MINT-Berufe und ein frühes Aufzeigen der faszinierenden Möglichkeiten von Ausbildungen in diesem Bereich.

Sie haben ein Studium an der HSG angefangen, dann aber abgebrochen. Was war der Grund dafür?

Es lag an einem Angebot für einen beruflichen Einstieg, das ich während den Semesterferien erhalten habe. Zuerst wollte ich dies nicht machen, habe mich aber nach längerer Diskussion entschieden, den Schritt für drei Jahre zu gehen und daher mein Studium zu unterbrechen. Nach etwa 2,5 Jahren kam ein Angebot von Intersport und dann stand ich definitiv vor der Entscheidung zwischen Studium und der Chance bei Intersport – damals leitete Adolf Ogi noch die Intersport-Gruppe. Ich habe mich damals für das Angebot entschieden und damit wurde aus dem Unter- ein Abbruch des Studiums.

Sie waren in unterschiedlichen Branchen als CEO oder in der Konzernleitung von grossen Unternehmen tätig und haben daher einen sehr vollen Rucksack. Wenn Sie vor 15-jährigen Schülern eine Vorlesung halten könnten, welche Erfahrungen würden Sie ihnen auf den Weg mitgeben?

Wenn man Führungsfunktionen anstrebt, muss man Menschen mögen und gerne mit ihnen zusammenarbeiten.

Ich habe früher intensiven Mannschaftssport betrieben und sehe auch heute noch viele Parallelen zum Berufsleben. Handball habe ich mit grosser Leidenschaft gespielt, bin an jedes Training gerne gegangen und auf die Matchs habe ich mich sowieso gefreut. Ich habe dann festgestellt, dass es auch im Berufsalltag so war. Egal, um welchen Job es ging, ich habe jeden mit Leidenschaft gemacht. Dies ist eine wichtige Voraussetzung. Ähnliches Verhalten sehe ich auch bei meinen Kindern, die aber noch in der Ausbildung sind.

Wenn man Führungsfunktionen anstrebt, muss man Menschen mögen und gerne mit ihnen zusammenarbeiten. Es ist wie beim Handball – ein gemeinsames Ziel anvisieren, mit Niederlagen umgehen und sich als Team zusammenzuschweissen. Durch eine gemeinsame Motivation kann man das Beste aus allen individuellen Fähigkeiten herausholen. Dann ist sicher auch die Entwicklung einer Vorstellungs- bzw. Visionskraft und Fähigkeit, dies umzusetzen etwas, das ich aus dem Sport mitgenommen habe. «Last but not least» der Durchhaltewille. Dieser hilft mir auch heute noch sehr.

Bei welcher Schweizer Persönlichkeit würden Sie heute gerne mal als «Schüler» für eine Stunde in den Unterricht sitzen und etwas lernen? Und warum?

Ich wüsste einige, jedoch gibt es jemanden, der mir, gerade weil ich viel lese, häufig in den Sinn kommt – Peter von Matt, der bekannte Schweizer Schriftsteller. Zu ihm würde ich heute gerne in die Schule gehen. Er hat Bücher geschrieben wie etwa «Die tintenblauen Eidgenossen» oder «Das Kalb vor der Gotthardpost». Ich kann solche Werke immer wieder lesen. Ich finde sie brillant geschrieben, wie er sich mit der Schweiz auseinandersetzt, aufzeigt, wie sie entstanden ist und auch was sie auszeichnet – warum wir sind, wie wir sind. Durch seine Bücher erkennt man, wie wichtig die Sprache ist und dass man sich präzise und differenziert ausdrücken kann.

Immer mehr Menschen gehen nach der Pensionierung nochmals an die Uni zurück und bilden sich in einem komplett neuen Thema weiter. Welches Themenfeld wäre das bei Ihnen und warum?

Themen wie Glaziologie oder Petrologie begeistern mich auch heute noch.

Das ist ein klarer Fall, weil ich mich nämlich nach der Matura an zwei Hochschulen eingeschrieben hatte – an der Universität St. Gallen und an der ETH. An der ETH hatte ich mich für Geologie immatrikuliert. Geografie und im Speziellen Geologie hat mich schon immer interessiert. Ich wäre sehr gerne in die Forschung gegangen, möglichst in die Antarktis. Themen wie Glaziologie oder Petrologie begeistern mich auch heute noch. Mit meinem Vater war ich früher «strahlen». Heute bin ich sehr viel in Berg- und Gletschergebieten unterwegs.