Gilles Marchand, Generaldirektor der SRG SSR, spricht mit uns im Interview darüber, was er in seinem Studium gelernt hat, wo er das Verbesserungspotenzial der Schweizer Bildungslandschaft sieht und verrät uns, welche Vorlesungen er gerne besuchen würde.
Was bezeichnen Sie als Ihren bisherig grössten Erfolg Ihrer Karriere?
Die Umsetzung der digitalen Transformation des Fernsehens bei RTS. Wir haben damals 2001 Fernsehprogramme in der Westschweiz im Internet verfügbar gemacht. Diese grundlegende Entwicklung hin zu einer «à la carte»-Mediengesellschaft hat es auch ermöglicht, die Werte des Service public, seine Vielfalt, Qualität und Unabhängigkeit zu bewahren.
Wer ist Ihr Vorbild?
Ich habe kein einzelnes Vorbild, sondern orientiere mich an vielen Menschen, die mich zu unterschiedlichen Zeiten in meinem Leben inspiriert haben oder inspirieren. Im Bereich Soziologie, Medien und Kultur. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen!
Wenn Sie nicht arbeiten, was machen Sie am liebsten?
Dann bin ich auf Reisen. In Europa oder darüber hinaus, oft kurze, aber häufige Aufenthalte. Die Begegnung mit anderen Kulturen und Realitäten ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, um neue Energie zu tanken.
Was begegnet Ihnen im Berufsalltag, das Sie bereits auf Ihrem Bildungsweg gelernt haben?
Sehr deutlich das Verständnis der Öffentlichkeit. Die Soziologie liefert den Schlüssel für das Verständnis der Gesellschaft. Dies ist sehr nützlich im Umgang mit Medien. Soziologie eignet sich auch bei Diskussionen mit Medienwissenschaftlern oder Datenwissenschaftlern, die künftig eine immer wichtigere Rolle spielen werden.
Worin sehen Sie die Vorteile des Schweizer Bildungssystems?
Der Vorteil ist der klare Zugang zur Hochschulbildung. Die Schweizer Universitäten und Hochschulen sind für alle zugänglich, unabhängig von den finanziellen Mitteln. Dies ermöglicht einen sehr positiven soziokulturellen Mix für die Schweizer Gesellschaft. Und die Vielfalt der angebotenen Fächer ist wunderbar. In der Schweiz besteht auch ein gesundes Verhältnis zwischen öffentlichen und privaten Geldern, was eine weltweit anerkannte Qualitätsforschung ermöglicht. Schliesslich hat sich das duale System zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung bewährt.
Worin sehen Sie das Verbesserungspotenzial des Schweizer Bildungssystems?
Die Schweiz muss dafür sorgen, dass sie in den Studiengängen offen bleibt. Für die eigenen Studierenden und Forscher, die weiterhin gleichberechtigten Zugang zu Forschungsgeldern haben müssen, aber auch bezüglich der Aufnahme von ausländischen Studierenden. Und manchmal behindert die kantonale Logik unseres Landes die Entwicklung von Kompetenzzentren. Wir kennen dieses Problem auch in anderen Bereichen.
Wie informieren Sie sich über mögliche Aus- und Weiterbildungsangebote?
Wir haben eine interne Weiterbildungspolitik mit einem Katalog von verfügbaren Schulungen, die an die Bedürfnisse unserer Unternehmen angepasst sind. Aber ich bin auch Mitglied des Verwaltungsrates der Universität Genf. Dies erlaubt es mir, die Entwicklung der akademischen Lehrpläne genau zu verfolgen. Zudem habe ich zwei Kinder, die in einem Masterstudium sind und wir führen viele Diskussionen über die Perspektiven der Ausbildung.
Welche Fähigkeiten sind heute essenziell für eine erfolgreiche Karriere?
Wir brauchen eine Grundstruktur, eine Art konzeptionellen und methodischen Rahmen, der es ermöglicht, mit verschiedenen Arten von Problemen umzugehen. Dann, und vor allem, ein sehr hohes Mass an Flexibilität, eine völlige Offenheit für Veränderungen. Nichts wird in unserer Gesellschaft mehr unumstösslich verankert sein. Know-how entwickelt sich sehr schnell, man muss in der Lage sein, sich selbst zu hinterfragen, sich ständig anzupassen.
Welches Studium würde Sie aktuell interessieren?
Anthropologie, Ethnographie…. und Astrophysik! Man muss verstehen, woher man kommt, um sich vorzustellen, wohin man gehen könnte. Für Astrophysik habe ich vermutlich aber leider nicht die notwendige wissenschaftliche Basis…. :i-)
Welchen Tipp haben Sie für eine Auszeit?
Man sollte Lesen! Nehmen Sie sich die Zeit zum Lesen. Es ist in meinen Augen ein ganz wesentlicher Akt des Widerstands gegen die Fragmentierung der digitalen Gesellschaft. Man sollte sich zwingen, ein lineares Verhalten zu bewahren: Man beginne bei A und beende es bei Z. Ohne Unterbrechung. Zudem ist Lesen grossartig für die Neuronen.
Vor 19 Jahren ist Gilles Marchand zur SRG SSR gekommen, seit 2017 ist er Generaldirektor der Schweizer Service public-Anbieterin. Zuvor war der 57-jährige Familienvater bei der Tageszeitung «Tribune de Genève» sowie bei Ringier Romandie tätig. Ursprünglich hat er Soziologie an der Universität Genf studiert.