Wir setzen uns auf der Treppe unseres Seminars und trinken lustlos unseren Kaffee. Es ist Juli und die meisten unserer Freund*innen von der Uni liegen irgendwo in der Sonne, während wir stickige Bibliotheksluft atmen und Seminararbeiten schreiben. Es geht bei uns beiden schleppend voran, die Gedanken sind in der kühlen Limmat, die Konzentration ist weg.

„Ich könnte jetzt ein Ritalin brauchen“, sagt meine Kollegin und wir lachen beide. Keine von uns hat je Ritalin genommen. Für uns ist Ritalin nur eine Metapher, die bedeuten soll: „Ich habe wieder einmal zu spät mit dem Lernen begonnen und bin jetzt im Stress.“ Für uns ist Ritalin nur eine dieser Uni-Legenden, ein zweifelhaftes Wundermittel, mit dem das Lernen und Produktivsein angeblich leicht, wie von allein von der Hand gehen soll. Es ist Uni- Allgemeinwissen, dass Ritalin genommen wird, gewisse Studiengänge hat man mehr im Verdacht als andere, aber niemand redet wirklich darüber.

Ich beginne mich zu fragen, was wirklich dran ist an dieser Legende vom Ritalin. Wie viele Studierende helfen sich damit durch das Studium? Lassen sich damit tatsächlich Glanznoten erzielen, und wenn ja, wie lange bevor sich Schattenseiten zeigen? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, spreche ich mit einer Expertin vom Psychologischen Dienst der UZH/ETH und darf zwei Studierende treffen, die mit Ritalin als Lernhelfer ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben.

Eine magische Pille?

Der Verkauf von leistungssteigernden Medikamenten steigt laufend an.

Bisher gibt es keine verlässliche Studie darüber, wie viele Studierende in der Schweiz tatsächlich Ritalin oder ähnliche Substanzen nehmen, um ihre Leistung im Studium zu verbessern. Laut einer Studie der Helsana steigt jedoch der Verkauf von leistungssteigernden Medikamenten wie Ritalin laufend an, zwischen 2006 und 2009 gar um 42 Prozent.

Auch Simon* kennt die Legende vom Ritalin, als sich das Semester dem Ende zuneigt und sich der Lernstoff immer höher türmt — er weiss, ohne Hilfe ist das Lernpensum nicht zu bewältigen. Von einem Bekannten kann er die Tabletten kaufen.

„Ich war hin und her gerissen“, erinnert sich Simon an das Lernen mit Ritalin. „Ich habe den Anspruch, das Studium aus eigener Kraft und Motivation zu schaffen. Aber es war einfach so viel auswendig zu lernen, das hätte ich ohne Hilfe nicht geschafft.“ Simon plant sich ein paar ganze Tage zum Lernen ein und nimmt eine halbe Tablette am Morgen, dann nochmals eine halbe am Nachmittag. „Der Effekt war nicht extrem. Ich konnte mich einfach wirklich gut auf den Stoff konzentrieren, ohne ständig abgelenkt zu sein. Auch die Motivation war grösser, die Informationen aufzunehmen. Aber ich war ein bisschen wie in einem Tunnel und war dann ziemlich erledigt, als die Wirkung abgeklungen war.“

Abgesehen von diesem einen mal hat Simon danach nie mehr Ritalin verwendet, um sich auf Prüfungen vorzubereiten, auch wenn es verfügbar gewesen wäre. „Es ist ganz hilfreich, wenn man sich viele Facts merken muss. Aber ich glaube, mir hätte Ritalin nicht geholfen, ein Thema tiefer zu erfassen und dann kreativer oder origineller in eigenen Studien wiedergeben zu können — darum hatte es für mich dann keinen Reiz mehr.“

Ganz anders war das für Nina*.

Lernen wie eine Maschine

Nina macht jedes Semester mehr als 30 Credits, was viel zu viel ist, wie sie jetzt im Nachhinein sagt. Irgendwann ist das Pensum einfach zu hoch, das Lernen ohne Hilfe scheinbar nicht mehr zu schaffen. Bedenken hat sie keine, als sie zum ersten Mal Ritalin nimmt: Sie kennt einige Leute, die Ritalin zum Lernen verwenden, und keine*r von ihnen hat von Nebenwirkungen berichtet. „Die Wirkung war extrem stark. Ich konnte stundenlang hochkonzentriert und ohne Pause durchlernen“, beschreibt Nina ihre Erfahrung mit Ritalin. Aber der Effekt fällt nicht aus wie gewünscht. Obwohl sie fast pausenlos lernt, werden Ninas Prüfungsnoten nicht besser, sondern schlechter: „Ich habe bald gemerkt, dass ich zwar länger durchhalte beim Lernen, dafür aber auch viel mehr Fehler mache, die ich ansonsten nicht machen würde.“

Noch schlimmer jedoch sind die Nebenwirkungen, die Nina bald zu spüren beginnt. Sie kommen erst, nachdem sie bereits ein paar Mal mit Ritalin gelernt hat, sind dann aber umso heftiger.

Ich hatte gar keine Lebensfreude mehr.

„Ich hatte keinen Appetit mehr, manchmal habe ich verschwommen gesehen und das Schlimmste war, dass ich gar keine Lebensfreude mehr hatte. Ich habe nur noch gelernt wie eine Maschine und alles andere vernachlässigt.“

Die Nebenwirkungen werden irgendwann so belastend, dass Nina erkennt, dass sie unbedingt aufhören muss, Ritalin zu nehmen. Doch es abzusetzen stellt sich als schwierig heraus, denn Ritalin kann abhängig machen — nicht nur physisch, sondern auch psychisch. „Ich habe es zum Glück geschafft, Ritalin abzusetzen, aber es war nicht einfach. Ich hatte irgendwann das Gefühl, nicht mehr ohne Ritalin lernen und Leistung erbringen zu können. Darum war es schwierig, das wieder ohne Ritalin zu versuchen.“

Auf die eigene Leistung vertrauen

Sowohl Nina als auch Simon ist das Lernpensum über den Kopf gewachsen, die Lösung haben sie bei Ritalin gesucht. Doch wie besonders Ninas Erlebnisse zeigen, kann Ritalin auch noch mehr Probleme schaffen als es löst.

Ich darf mit Cornelia Beck von der Psychologischen Beratungsstelle der UZH und ETH sprechen. Zu ihr kommen Studierende mit Lernschwierigkeiten meist erst dann, wenn sie nicht mehr weiter wissen und eine schnelle Lösung brauchen. „Der Druck auf die Studierenden ist schon sehr gross, aber Lernschwierigkeiten ergeben sich meistens aus einem Sammelsurium an verschiedenen Belastungen“, sagt Cornelia Beck. „Viele Studierende wollen nicht nur Bestleistungen im Studium erbringen, sondern auch Zeit mit Freund*innen, Partner*innen und der Familie verbringen, ihren Hobbys nachgehen. Wenn dann noch zusätzlich eine belastende Situation dazukommt, kann das Lernen schnell zu einem immensen Druck werden.“

Die wenigsten Studierenden, die bei der Psychologischen Beratungsstelle Hilfe wegen des Lernens suchen, berichten über Erfahrungen mit Ritalin — vielleicht weil diejenige, die Ritalin nehmen, glauben, eine Lösung für ihre Lernschwierigkeiten gefunden zu haben. „Das ist darum bedenklich, weil das Studium mehr ist als nur Fakten lernen und Diplome sammeln“, so Cornelia Beck. „Das Studium ist auch die Zeit, in der wir unsere Persönlichkeit festigen. Es ist wichtig, dass wir lernen, dass wir aufgrund eigener Leistung erfolgreich sein können.“

Mut zu Umwegen

Wie also kann man einen guten Umgang mit dem Lernen finden, gerade auch in stressigen Phasen des Studiums, wenn die Prüfungen und Abgabetermine immer näher rücken? Cornelia Beck empfiehlt, sich realistische Ziele für das Lernen zu setzen und sich den Stoff frühzeitig einzuteilen. Studierende verlangen laut der Expertin oft mehr von sich selbst, als nötig wäre — darum ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass man nicht alles lernen kann und es normal und in Ordnung ist, dass man mit Wissenslücken an die Prüfung geht. Noch wichtiger jedoch ist es laut Cornelia Beck, die Ansprüche, die man an sich selber hat, kritisch zu reflektieren.

Das Studium zu wechseln, wird leider oft als Versagen interpretiert.

„Oft kämpft man nicht mit Lernschwierigkeiten, weil man zu faul oder zu dumm ist, wie viele sich dann vorwerfen. Oft liegt es auch daran, dass das Studienfach vielleicht nicht das Richtige ist für einen“, sagt Cornelia Beck. „Das Studium zu wechseln wird leider oft als Versagen interpretiert. Dabei ist es mutig, sich für etwas anderes zu entscheiden, was einem vielleicht mehr zusagt. Man darf sich auch einfach Zeit nehmen, herauszufinden, was man wirklich will und gut kann — auch wenn man dann vielleicht ein Jahr länger studiert.“

Studierende sollen sich die Frage stellen, was sie gut können und was ihnen Spass macht, was ihr Interesse entfacht und sich nicht so sehr darauf fokussieren, was sie nicht können. Nina hat genau das gemacht, hat ihr Studium und ihre hohen Ansprüche an sich selbst kritisch hinterfragt. Auf Ritalin wird sie sich bestimmt nicht mehr verlassen und appelliert an ihre Kommiliton*innen: „Ich rate jedem den Konsum von Ritalin ab. Es schadet sowohl eurem Körper als auch eurer Psyche. Das ist es einfach nicht wert. Wenn ihr das Lernpensum nicht bewältigen könnt, dann macht weniger Credits oder überlegt euch, ob euer Studium wirklich das Richtige ist für euch. Ritalin ist keine Lösung.“

Ritalin enthält den Stoff Methylphenidat und wird eigentlich eingesetzt, um Personen mit dem Aufmerksamkeitsdefizit ADHS zu behandeln. Der Stoff erhöht die Konzentration von Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt, was dazu führt, dass Signale zwischen den Gehirnzellen schneller und stärker übertragen werden. Als Nebenwirkungen treten häufig Appetit- und Schlaflosigkeit auf. Auch in der Anwendung bei Menschen mit ADHS ist das Medikament deshalb umstritten.

*Namen geändert