Die Schweiz hat über die letzten Jahre hinweg ein stetes Wachstum des Dienstleistungssektors verzeichnet. Hans-Ulrich Bigler, Direktor Schweizerischer Gewerbeverband sgv und Nationalrat FDP ZH, erklärt, was das für das Schweizer Bildungssystem bedeutet. Dies tut der Ökonom im Rahmen seiner Position im Schweizer Gewerbeverband sgv, welcher die Schweizer KMU repräsentiert.
In einem ersten Interview zur Tertiarisierung äusserte sich bereits Prof. Dr. Philipp Gonon zu den Themen Fachkräftemangel und möglichen Lösungen innerhalb des Bildungssystems. Gonon sieht in der gymnasialen Maturität einen wichtigen, stützenden Faktor für einen gedeckten Bedarf an Fachkräften. Im Gegensatz dazu vertritt Hans-Ulrich Bigler vom Schweizer Gewerbeverband sgv eine Position, welche die Berufsbildung stärker ins Zentrum rückt. Im Interview äussert er sich zur Thematik und zum Wert der Berufsbildung in der Schweiz.
Fachkräfte sind nicht in erster Linie akademisch gebildete Berufsleute. Dieser Trugschluss wird leider häufig gemacht.
Im Buch «Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz» schreibt Herr Maurer, einer der Herausgeber, dass der Dienstleistungssektor des Arbeitsmarktes immer mehr an Bedeutung gewinnt und dass diese Entwicklung einen Fachkräftemangel verursacht hat. Kann die Berufsbildung mithilfe der Berufsmaturität diesen Fachkräftemangel selbst auffangen?
Es ist nicht nur der Dienstleistungssektor, dem Fachkräfte fehlen. Fachkräfte bedeuten nicht automatisch Leute mit mehr schulischer Ausbildung, also mit gymnasialer Matura oder Berufsmatura, sondern das bedeutet allgemein eine gute schulische oder berufliche Grundbildung mit entsprechender Weiterbildung, sei dies in der höheren Berufsbildung oder im akademischen Bereich. Und wenn wir die höhere Berufsbildung vermehrt stärken, können wir auch den Fachkräftemangel teilweise auffangen.
Und welche Rolle spielt die gymnasiale Maturität bei der Suche nach einer Lösung für den Fachkräftemangel?
Fachkräfte sind nicht in erster Linie akademisch gebildete Berufsleute. Dieser Trugschluss wird leider häufig gemacht. Unser Bildungssystem hat auf der Tertiärstufe zwei gleichwertige Wege: Die höhere Berufsbildung mit Berufsprüfung und Höherer Fachprüfung sowie den akademischen Weg über verschiedene Hochschulen. Für die KMU sind es in erster Linie gut ausgebildete Berufsleute, die wir brauchen, deshalb hat sich der sgv in der Politik auch für die finanzielle Stärkung der höheren Berufsbildung eingesetzt.
2007 konstatierte das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, dass Berufsmatura und gymnasiale Matura «gleichwertig, aber andersartig» seien. Inwiefern würden Sie selbst dieser Aussage zustimmen?
Die Matura – egal ob gymnasiale oder Berufsmatura – hat in erster Linie die Studierfähigkeit zum Ziel. Dies gilt für beide Typen, deshalb die Gleichwertigkeit. Andersartig ist die Berufsmatura deshalb, weil sie kombiniert ist mit einer beruflichen Grundbildung und damit der Berufspraxis.
Inwieweit finden Sie bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels das Modell der Fachmatura wichtig?
Die Fachmatura ist weder Fisch noch Vogel. Sie führt zu keinem Berufsabschluss wie die Berufsmatura, denn diese ist nur mit einer abgeschlossenen Berufslehre möglich. Es ist auch keine gymnasiale Matura, die den Weg zu einem Universitätsstudium ermöglicht. Wir haben uns deshalb mit Ausnahme im Bereich Kunst und Musik immer gegen die Schaffung solcher Fachmittelschulen oder der Fachmatura gewehrt, leider erfolglos.
Welche Rolle spielen moderne Medien und Technologien für das Wachstum im Dienstleistungssektor und den damit verbundenen Fachkräftemangel?
Sicher sehr viel. Die Digitalisierung ist aber nicht nur im Dienstleistungssektor ein Haupttrend, sondern in der ganzen Arbeitswelt seit mehreren Jahren eine Realität.
Entscheidend bei der Wahl des Bildungsweges sollen Eignung und Neigung sein.
Gleich im Anschluss daran: Wie früh sollte man Ihrer Meinung nach beginnen, Kinder oder Jugendliche durch das Bildungssystem mit zeitgemässer Mediennutzung vertraut zu machen?
So früh wie möglich, natürlich altersgerecht. Dies bedingt aber, dass auch die Lehrpersonen entsprechend aus- und weitergebildet werden.
Zurück zu der Berufsbildung: Wie stehen Sie zu der häufig gehörten Aussage, dass der Weg der Berufsbildung Jugendlichen zu früh zu schwere Lebensentscheidungen aufdrängen soll?
Wir vom sgv betrachten das als Irrglaube. Nehmen Sie den Entscheid, den gymnasialen Weg zu beschreiten: Dies entscheiden die Eltern bereits in der vierten, fünften oder sechsten Klasse. Schafft es die Tochter oder der Sohn nicht oder scheitert er oder sie im Studium, ist das ein sozialer Rückschritt, wenn dann doch eine Berufslehre angepackt werden muss. Das ist doch eine echte Sackgasse! Das passiert nicht, wenn man mit 16 Jahren eine Lehre beginnt, diese abbrechen muss, weil es einem nicht gefällt oder passt, und dann eine neue Lehre beginnt und nach drei oder vier Jahren einen Berufsabschluss in der Tasche hat.
Was würden Sie abschliessend einem jungen Menschen mit auf den Weg geben, der neu in den Arbeitsmarkt eintreten will?
Entscheidend bei der Wahl des Bildungsweges sollen Eignung und Neigung sein. Dann sich gut orientieren und viel schnuppern und schliesslich vor allem nicht aufgeben und einen Abschluss anstreben.
Hans-Ulrich Bigler ist Ökonom und absolvierte ein Management-Ausbildungsprogramm an der Harvard Business School in den USA. Vor seinem Amtsantritt beim sgv war er während elf Jahren Direktor des Unternehmerverbandes der Schweizer Druckindustrie Viscom. Danach war er zwei Jahre als Direktor des Unternehmerverbandes der Schweizer Maschinenindustrie Swissmem tätig. Heute ist Herr Bigler unter anderem sgv-Direktor, Mitglied der FDP-Berufskommission im Kanton Zürich und Präsident der KMU-Stiftung Schweiz und des Schweizerischen Instituts für Unternehmerschulung. Herr Bigler wohnt mit seiner Familie in Affoltern am Albis und geniesst Reisen und Sport.